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Vom Mut des Autors, einen Roman unter die Leute zu bringen

5. Oktober 2007

Joachim Wittstocks neues Buch führt in die endfünfziger Jahre zurück

Zu Joachim Wittstock: „Die uns angebotene Welt. Jahre in Klausenburg", Roman / Von Carmen Elisabeth Puchianu

Schon der Titel des neuen Romans von Joachim Wittstock enthält eine gewisse Mehrdeutigkeit: Er klingt Inhaltliches an ebenso wie Weltanschauliches und Werkpoetologisches. Worauf der Leser sich einzulassen hat, wird gleich im Vorwort des Verfassers ausgesprochen: Einem älteren literarischen Projekt will unter „bestmöglicher Sammlung" und „Selbstbeherrschung" endlich der Vorrang gegeben werden, um zur längst fälligen Ausführung zu gelangen. Es gilt dem Autor, eine „vierzig und mehr Jahre zurückliegende Vergangenheit" nicht lediglich zu beschauen, sondern literarisch zu vergegenwärtigen zwecks Veranschaulichung und Bewältigung von früher Erlebtem. Dabei ist der Autor bestrebt, keineswegs „ins Mutmaßliche, ins bloß Gedachte und Erfundene abzuirren", vielmehr geht es ihm um eine möglichst objektive, jeder Zeit verifizierbare Darstellung von gesellschaftlichen Vorgängen und persönlichen Geschehnissen. Dafür greift er in bereits bewährter Manier auf „schriftliche und sonstige Belege (...), auf Briefe, Aufzeichnungen, auf fotografische Aufnahmen und Zeitungsberichte" (S.7) zurück.

Das Bauprinzip seines Romans, das dem Autor lange Zeit ein schreibtechnisches Dilemma darstellte, erschließt sich ihm letztendlich beim Anhören von Bachs „Inventionen". Inventionen sind musikalische Klavierkompositionen, die, zwei- oder dreistimmig, das gesamte Stück aus einem musikalischen Einfall (Thema) heraus entwickeln. Das Thema wird dabei unterschiedlich bearbeitet, und zwar nach dem Prinzip der Imitation, der Sequenz (Wiederholung des Themas auf einer anderen Tonstufe), der Transposition (das Thema erscheint auf einer anderen Tonstufe), der Umkehrung, der Augmentation (Vergrößerung der Notenwerte), der Diminution (Verkleinerung der Notenwerte), oder der Abspaltung (nur ein Teil des Themas wird verwendet). Die gleichen Mittel stehen dem Epiker ausschweifender Prosa zu Gebot und Wittstock setzt sie wirkungsvoll ein, indem er sich auf den „Imitationsstil" beruft und betont: „Ja, die Erfindung ahmt das Wirkliche nach, und die Nachahmung des Wirklichen erfordert viel Erfindungsgabe..." (S.8). Damit platziert sich Wittstock in die Tradition hoher Erzählkunst, wie sie von Goethe über Fontane bis Thomas Mann und Günther Grass gepflegt wurde.

Der Roman enthält dreißig Inventionen, die dem musikalischen Kompositionsprinzip entsprechend ein recht beschränktes Personenregister agieren lassen, das Hauptthema als Variationen, Wiederholungen oder kontrapunktisch aufgreifen und weiter führen.
Konkret Biografisches findet seine Widerspiegelung auf dem Hintergrund real historischer Kulisse, die ganz genau abgesteckt wird und die Jahre 1956 - 1960, plus minus, wie im Verlauf des Romans wiederholt in ironisch distanziertem Ton festgestellt wird, betrifft. Die in Klausenburg verbrachten Studienjahre sind der Anlass für ein detailliertes Bild, darin Persönliches sich mit Überpersönlichem zu einer Gesamtdarstellung jener umstrittenen Anfangsjahre der rumänischen Volksrepublik und der Aufbaujahre einer neuen Gesellschaftsordnung im Rumänien der Nachkriegszeit verdichtet. Zusammengehalten werden die Inventionen einerseits durch den allwissenden Erzähler, der sich als echter Bruder jenes Geistes der Erzählung Mann'scher Prägung ausweist. Andererseits ist Georg Härwest, der etwas naive und gutgläubige Protagonist des Romans, das verbindende Element der gesamten Erzählung. Die auktoriale Erzählperspektive erfährt eine interessante Brechung und Relativierung durch die Sicht des jungen Georg Härwest.

Georg Härwest, dessen Name „im siebenbürgischen Dialekt Herbst bedeutet" und der von einem Kommilitonen „mit rednerischem Aufwand" mal als „Georg Herbst des Mittelalters", mal als „Georg Drachentöter" (S.393) tituliert wird, wird vom Erzähler ebenso verständnisvoll wie (selbst)ironisch gezeichnet, steht er doch nachgerade für das (jüngere) Alter-Ego des Verfassers und stellvertretend für eine ganze Generation von Nachkriegsintellektuellen siebenbürgisch-sächsischer Herkunft. Manchmal in die prekäre Position eines Außenseiters gedrängt, muss Georg, sehr gegen sein scheues Naturell, Engagement und Pflichtbewusstsein an den Tag legen, um den Anforderungen der neuen volksdemokratischen Lebensweise gerecht zu werden. So gelangt er nicht immer aus freien Stücken oder aus eigenem Antrieb in regelrechte Schlüsselpositionen, wie etwa in den Vorstand des deutschen Literaturkreises der Klausenburger Studenten.

Die Erzählung bewegt sich nicht immer linear und chronologisch. Der Erzähler macht von seinem Recht Vor- und Rückblenden einzuschalten Gebrauch, um so den geradlinigen Ablauf der Handlung retardierend zu unterbrechen, womit er den Leser nicht selten auf die Probe stellt.
Zu den thematischen Schwerpunkten des Romans gehört die Frage der kulturell-ethnischen Zugehörigkeit im Kontext der sozial-politischen Umstellungen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Siebenbürgen/Rumänien. Die Hauptfigur des Romans reflektiert über Geschehnisse, die Vertreter der deutschen Minderheit betreffen: Vom Mitläufertum während der Nazizeit ist die Rede ebenso wie vom Mitläufertum während der stalinistischen Zeit; es wird über geheimnisvolle Verhaftungen von angesehenen Hochschullehrern (vgl. Professor Durlach und Thome) und begabten jungen Künstlern, Dichtern und Musikern, die sich für die deutsche Minderheit verdient gemacht haben, erzählt.

Es ist aber auch vom Vermitteln zwischen den einzelnen Kulturen und Ethnien die Rede, nicht zuletzt von tiefgründigen Überlegungen über Tod und Freitod (am Beispiel der Sabine B., ebenso wie an jenem einer rumänischen und einer ungarischen jungen Frau), von Liebe und von Eifersucht, von Glück und Entsagung.

Im Verlauf der Handlung gelingt es dem Autor, Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes zu vergegenwärtigen, allein schon dadurch, dass er seine Erzählung immer wieder in die Zeitebene der Gegenwart verschiebt und sie mit lebendigen und ausgesprochen pittoresken Figuren ausstattet. Neben Georg fallen besonders weibliche Gestalten auf, wie die zu theatralischem Gehabe neigende Oda Durlach, die von Selbstzerstörung geprägte Künstlerin Marion Faber, die temperamentvolle Csilla oder die eher stille Ileana. Unter den männlichen Protagonisten treten die Brüder Schott hervor, sowie die bereits genannten Lehrer, Durlach und Thome. Als Ratgeber aus der Ferne fungieren Georgs Vater und Mutter.

Die dem jungen Georg und durch ihm auch dem Leser angebotene Welt erweist sich in Wittstocks Roman oft als problematisch, heimtückisch und undurchschaubar. Trotzdem ist der Protagonist bereit, sich dieser Welt zu stellen. Er erinnert dabei ebenso an einen modernen Don Quijote wie an Hans Castorp. Schüchtern und zurückhaltend, pflichtbewusst und engagiert, geht Georg einen vergleichbaren Initiationsweg. Es überrascht nicht, dass dem Protagonisten ähnliche Erkenntnisse zuteil werden wie Castorp auf einsamer Skitour im Hochgebirge und dass er am Ende des Romans - wie Castorp seinerzeit am Ende des „Zauberberg" - dem Blick des Lesers „unwiderruflich" (S. 395) entschwindet.

Fragen der Romanpoetologie beschäftigen Wittstock in seinem neuen Buch ebenso wie in seinen früheren Schriften. Dem Konzept der Wirklichkeitskunst verhaftet, bekennt sich der Autor zu einem Realismus, der ihn immer wieder nötigt, „den in seinem Umkreis erkennbaren Dingen und absehbaren Entwicklungen deutlich ins Auge zu sehen"(S. 25).

Heikles und Verfängliches, so eine „elementare Regel der Zeitläufe", sollen „nicht aufs Papier" gesetzt, „nicht aus der Hand" gegeben oder „gar mit der Post" befördert werden (vgl. S. 31). Das gilt gleichermaßen für die agierenden Romanfiguren wie für den Verfasser selbst. Politische Hinter- und Beweggründe werden ebenso diplomatisch, beinahe euphemistisch umschrieben wie Erotisches/Sexuelles, Letzteres meist in konjunktivischer Form, bzw. als Wunschdenken wiedergegeben.
Sprachlich bleibt Wittstock seinem gewohnten Erzählstil treu. Man erkennt den Meister ausgefeilten sprachlichen Ausdrucks, der sich gern in sprachspielerischen Andeutungen und Umschreibungen ergeht und mittlerweile den Mut aufbringt, rumänische und ungarische Ausdrücke und Wörter in den Text einzubauen und so dem Ganzen noch mehr Wirklichkeitsnähe zu verleihen. Dass dabei die Schreibung rumänischer und ungarischer Nomen an die deutsche Großschreibung angepasst wurde, darüber und über andere Spracheigenheiten lässt sich diskutieren.

„Die uns angebotene Welt" erschließt sich dem Leser letztendlich je nach Erwartung und Vorwissen als Schlüsselroman, insofern darin eine kritische und komplizierte Etappe im Leben einzelner Individuen bzw. einer ganzen Gemeinschaft unbeschönigt und unpathetisch dargestellt wird, wie sie hierzulande literarisch so noch nicht dargestellt wurde. Denn hier ist weder eine pathetische Märthyrerpose zu erkennen, noch wird der Anspruch auf oppositionelles Rebellentum laut. Der Roman ist ebenso gut als Entwicklungsroman und nicht zuletzt als weltanschaulicher Wirklichkeitsroman zu lesen.

Aus welcher Perspektive auch immer, und trotz der äußerst konkreten, genau umrissenen Romantopografie (verifizierbare Stadtteile, Straßen und Gebäude in Klausenburg, Hermannstadt oder Kronstadt), wäre es müßig, die wahre Identität der einzelnen Figuren zu hinterfragen und sie auf ihre authentischen Vorbilder zurückzuführen. Wohlweislich enthält uns der Verfasser diese letzte Enthüllung vor, und das ist gut so und ganz im Sinn von Literatur, die etwas auf sich hält.

Leider wird die Gesamtausstattung des Buches dem Anspruch des Romans kaum gerecht. Der Umschlag zeigt dieses Mal zwar etwas mehr Farbe als im Falle des Vorgängerromans „Bestätigt und besiegelt" (2003), ist allerdings von dürftiger Qualität, was auch auf den Druck und das Papier zutrifft. Man kann dem ADZ Verlag den Vorwurf, ein lesenswertes Buch in völlig unansehnlicher Form verlegt zu haben, leider nicht ersparen.

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